70 Jahre Tarifvertragsgesetz: Tarifbindung stärken – Tarifverträge erkämpfen

26.04.2019

Von Jutta Krellmann, Sprecherin für Mitbestimmung und Arbeit der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag


Gute Tarifverträge garantieren Beschäftigten ein sicheres Auskommen, geregelte Arbeitszeiten, einen erweiterten Urlaubsanspruch und eine planbare Zukunft. Sie werden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in starken Gewerkschaften erkämpft. Gesetzlich verankert sind sie im Tarifvertragsgesetz (TVG), das dieser Tage 70 Jahre alt wird. Es wurde am 9. April 1949 – noch vor der Gründung der Bundesrepublik – vom Wirtschaftsrat der britischen und amerikanischen Besatzungszone beschlossen. Seit 1990 gilt es auch in den neuen Bundesländern. Es regelt ein zentrales Gebiet der Arbeitsbeziehungen, nämlich die kollektive Aushandlung von Arbeits- und Einkommensbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zurzeit gibt es rund 77 000 gültige Tarifverträge in Deutschland, 5 000 Tarifabkommen werden jedes Jahr neu abgeschlossen. Trotz dieser vermeintlich positiven Ergebnisse ist der Zustand des Tarifvertragssystems alarmierend. Seit Jahren geht die Reichweite der Tarifverträge deutlich zurück. Mittlerweile kann man von einer Erosion des Tarifsystems sprechen.


Tarifbindung geht bundesweit zurück
Die Tarifbindung in Deutschland ist in den letzten Jahren zurückgegangen; das zeigt die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag. Dies gilt für nahezu jedes Bundesland und für nahezu jeden Wirtschaftszweig mit Ausnahme des Öffentlichen Dienstes sowie für Betriebe jeder Größe. Seit 2013 arbeitet die Mehrheit der Beschäftigten in Unternehmen, die nicht an einen Branchentarifvertrag gebunden sind.
Weniger als die Hälfte aller Beschäftigten arbeitet inzwischen in Unternehmen mit einem Branchentarifvertrag. Heute arbeiten sogar 45 Prozent der Beschäftigten in Unternehmen ohne irgendeinen Tarifvertrag. Während lediglich ein Viertel aller Betriebe an einen Branchentarifvertrag gebunden ist, sind inzwischen 73 Prozent ohne jede Tarifbindung. In kleinen Unternehmen ist die Tarifbindung deutlich schlechter als in großen Betrieben: Bei kleinen Unternehmen mit bis zu 9 Beschäftigten waren im Westen knapp 80 Prozent und im Osten knapp 90 Prozent der Unternehmen nicht tarifgebunden.

In den folgenden Wirtschaftszweigen waren die wenigsten Unternehmen an einen Branchentarifvertrag gebunden: Information und Kommunikation (6 Prozent im Westen, 3 Prozent im Osten), freiberufliche, wissenschaftliche und technische Dienstleistungen (17 Prozent im Westen, 14 Prozent im Osten), Verkehr und Lagerei (20 Prozent im Westen, 6 Prozent im Osten) sowie Gastgewerbe und sonstige Dienstleistungen (24 Prozent im Westen, 9 Prozent im Osten). In Branchen wie Information und Kommunikation arbeiten über 80 Prozent der Beschäftigten in Betrieben ohne Tarifbindung und auch im Handel (60 Prozent im Westen, 76 Prozent im Osten) sowie in der Branche Gastgewerbe und sonstige Dienstleistungen (61 Prozent im Westen, 75 Prozent im Osten) ist die Tarifbindung sehr schlecht.
Dieser Tarifschwund ist besorgniserregend. Immer weniger Beschäftigte werden durch Tarifverträge geschützt, die gute Arbeit zu fairen Löhnen garantieren. Viele Arbeitgeber haben den sozialen Kompromiss aufgekündigt. Die Bundesregierung drückt sich vor der Aufgabe, Beschäftigte vor Dumping-Löhnen zu schützen.

Auch in Niedersachsen Rückgang der Tarifbindung
Bevor ich aufzeige, was die Bundesregierung tun müsste, um die Tarifbindung zu stärken, werfe ich einen Blick auf Niedersachsen. Auch in meinem Bundesland ist die Tarifbindung in den letzten Jahren in vielen Bereichen zurückgegangen. Damit liegt das Land im traurigen Bundestrend. Der Anteil der Beschäftigten in nicht-tarifgebundenen Unternehmen ist in den letzten zehn Jahren auf 43 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum ist der Anteil der Beschäftigten in Unternehmen mit einem Branchentarifvertrag um 10 Prozentpunkte auf 42 Prozent gefallen. Damit ist Niedersachsen auf dem zweitschlechtesten Rang nach Sachsen und Schlusslicht in Westdeutschland.
Seit 2013 arbeitet die Mehrheit der Beschäftigten in Unternehmen, die nicht an einen Branchentarifvertrag gebunden sind. Dagegen ist in Niedersachsen der Anteil der Beschäftigten in Unternehmen, die an einen Haustarifvertrag gebunden sind, in den letzten zehn Jahren auf 15 Prozent gestiegen. Der Anteil ist hier nach Bremen (17 Prozent) am höchsten; er kann auch durch die Bedeutung der Volkswagen AG und ihren Haustarifvertrag in meinem Bundesland erklärt werden – das ist kein Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil: Der Anteil der Betriebe in Niedersachsen, die an einen Branchentarifvertrag gebunden sind, ist bis 2017 auf 28 Prozent gesunken. An einen Haustarifvertrag waren in Niedersachsen zum selben Zeitpunkt 5 Prozent der Betriebe gebunden. Völlig tariflos waren in Niedersachsen 2017 immerhin 67 Prozent der Betriebe.

Lediglich 8 Prozent aller Betriebe der Privatwirtschaft in Niedersachsen waren im Jahr 2017 tarifgebunden und verfügten zugleich über einen Betriebsrat. Weniger als ein Drittel aller Beschäftigten arbeiteten 2017 in Unternehmen, die sowohl tarifgebunden sind als auch über einen Betriebsrat verfügen. Allerdings arbeiteten 2017 auch hier mehr als zwei Drittel der Beschäftigten (37 Prozent) in Betrieben ohne Tarifbindung und Betriebsrat.

Bundesregierung in der Pflicht
Der Trend der schwindenden Tarifbindung muss dringend gestoppt werden; das fordern die Gewerkschaften und wir als LINKE schon seit Jahren. Da ist der Gesetzgeber gefordert. Tarifsenkungs- und Vermeidungsstrategien müssen begrenzt werden. Etwa indem Tarifverträge automatisch nachwirken, wenn Unternehmen Outsourcing betreiben. Ein wichtiges Instrument, um die Tarifbindung zu erhöhen und der Tarifflucht entgegenzuwirken, ist, mehr Flächentarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Ein bereits abgeschlossener Tarifvertrag wird so auch für die nicht-tarifgebundenen Unternehmen der Branche verpflichtend.
Es kommt jedoch kaum zum Erlass von Allgemeinverbindlicherklärungen (AVEs) durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) oder durch die Arbeitsbehörden der Länder, weil die gesetzlichen Hürden noch immer zu hoch sind. Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie“, durch das auch der allgemeine Mindestlohn eingeführt wurde, unterzog die Große Koalition 2014 auch das TVG einer Reform. Erklärtes Ziel war es, mehr AVEs zu ermöglichen.

Das Problem ist nur: Seit 2014 ist die Zahl der AVEs trotz Reform weiter gesunken und die Zahl mit 25 erlassenen AVEs im Jahr 2018 auf einen historischen Tiefstand gefallen. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der AVEs um 80 Prozent zurückgegangen. Gemessen an neu abgeschlossenen Branchentarifverträgen wurden im Jahr 2018 nur 1,3 Prozent dieser Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. In 11 von 27 Branchen wurden in den vergangenen 10 Jahren gar keine Tarifverträge mehr für allgemeinverbindlich erklärt, darunter Branchen wie der Handel (zuletzt 2009), das Kraftfahrzeuggewerbe (2002) oder das Bäckerhandwerk (2002).
Es läuft also etwas gehörig falsch: Unternehmen, die Tarifflucht begehen, entziehen sich ihrer sozialen Verantwortung und verschaffen sich einen schmutzigen Wettbewerbsvorteil gegenüber den tariflich gebundenen Konkurrenten. Diese Entwicklung ist wirtschaftlich schädlich und gefährdet den sozialen Frieden in unserem Land. Das Tarifautonomiestärkungsgesetz aus dem Jahr 2014 hat sich als Rohrkrepierer erwiesen. Das Ziel, durch die Erleichterung der AVE Tarifverträgen zu stabilisieren, wurde komplett verfehlt. Die Bundesregierung muss endlich konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Tarifbindung einleiten. Als LINKE haben wir längst konkrete Vorschläge vorgelegt. Tarifverträge müssen auch gegen den Willen der Arbeitgeber für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Darüber hinaus brauchen wir ein Tariftreuegesetz auf Bundesebene. Öffentliche Aufträge dürfen nur an Unternehmen vergeben werden, die ihren Beschäftigten die branchenüblichen Tariflöhne zahlen.

Starke Gewerkschaften – starke Tarifverträge
Klar ist, dass nur starke Gewerkschaften den Arbeitgebern gute Arbeitsbedingungen und höhere Löhne abringen können. Das gilt auch und gerade 70 Jahre nach Einführung des Tarifvertragsgesetzes. Es liegt letztlich an den Beschäftigten, ob sie zusammen oder allein kämpfen. Eine organisierte Belegschaft und Betriebsräte, die Mitbestimmung und Teilhabe einfordern, können die Spirale der Schmutzkonkurrenz nach unten aufhalten. Deshalb brauchen wir flächendeckend starke Gewerkschaften und Betriebsräte. Deshalb muss die betriebliche Mitbestimmung vom Gesetzgeber gestärkt werden. Um die Spaltung der Belegschaften zu stoppen, müssen Betriebsräte das Recht erhalten, in allen wirtschaftlichen Fragen zwingend mitzubestimmen. Leiharbeit und Werkverträge sind in jedem Fall von der Zustimmung des Betriebsrates abhängig zu machen.


Quellen und Artikel zum Weiterlesen:

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Entwicklung der Tarifbindung in Deutschland“ (BT-Drs. 19/6502) von Pascal Meiser, Jutta Krellmann u. a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/065/1906502.pdf

Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Entwicklung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen“ (BT-Drs. 19/8131) von Pascal Meiser, Jutta Krellmann u. a. und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/086/1908626.pdf

Hans-Böckler-Stiftung zu „70 Jahre Tarifvertragsgesetz“: https://www.boeckler.de/pdf/p_ta_elemente_85_2019.pdf.