Arbeitszeitverkürzung 4.0

21.09.2016

Dass der digitale Wandel unser Leben und damit auch unsere Arbeit entscheidend verändern wird, hören wir nahezu täglich. Die Frage, wie sich dieser technologische Umbruch mit seinen immensen Produktivitätssteigerungen auf die Gesellschaft und unseren Alltag auswirkt, ist noch nicht entschieden. Bundesregierung und Arbeitgeberverbände schaffen schon mal Fakten, bevor überhaupt eine breite gesellschaftliche Diskussion um die Zukunft der Arbeit, ihrer Organisation und ihren Bedingungen stattfindet. Die damit einhergehenden Gefahren können wir an der aktuellen Arbeitszeitdebatte bereits erkennen. Dabei fehlt es nicht an Zukunftsszenarien, wie eine digitalisierte Arbeitswelt einmal aussehen könnte. Was fehlt, ist eine ehrliche Debatte über die Möglichkeiten einer digitalisierten Arbeitsgesellschaft, in der sich die Arbeits- und damit auch die Lebensbedingungen aller Beschäftigten im Vergleich zu heute deutlich verbessern.

Politik 4.0

Im „Dialog Arbeiten 4.0“ skizziert die Bundesregierung anhand der Blaupause der Arbeitgeber schon eifrig unsere Zukunft. Als Gegenentwurf zum kalifornischen Kapitalismus à la Google und Facebook hat Bundesarbeitsministerin Nahles vor drei Monaten einen neuen sozialen Kompromiss vorgeschlagen, der „Schutz, mehr Souveränität sowie nötige und erwünschte Flexibilität der Arbeitswelt“ beinhaltet und das Image der in Verruf geratenen Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit als vermeintlichen Garant für sozialen Frieden in der Gesellschaft aufpolieren soll. Nach ihrer Logik hängt die Zukunft der Arbeit zuvorderst von flexibleren Arbeitszeiten der Beschäftigten ab. Der starre Acht-Stunden-Tag soll weg, was dem berechtigten Anspruch von Beschäftigten entgegenkommt, ihre Arbeitszeit selbstbestimmt zu verteilen. Hier wird aber bewusst verschwiegen, dass die Entscheidung, wann sie arbeiten und wann nicht, auch weiterhin allein der Chef bestimmt. Die Verfügungsgewalt über unsere Zeit wird uns nur vorgegaukelt. Die Taktung unserer Arbeit ist fremdbestimmt – sie wird durch flexible Arbeitszeiten lediglich noch weiter an die Bedürfnisse der Betriebe angepasst. Wenn das zeitbezogen auch für die Beschäftigten hinhaut, gut. Aber was, wenn nicht?

Die Frage unserer Arbeitszeitverteilung war in der Vergangenheit schon oft Gegenstand kontroverser gesellschaftlicher Debatten und Gewerkschaftskämpfen – denn es geht um klassische Umverteilung. Dass darüber alle Menschen mitreden und entscheiden wollen, ist politisch aber weder möglich noch gewollt, denn die Bundesregierung hängt über den von ihr geführten Arbeitszeitdialog den Mantel des Schweigens. Klar ist bisher, dass weitere Aufweichungen des Arbeitszeitgesetzes auf uns zukommen. Darüber, wie weit der Flexibilisierungswahn geht, schweigt sich die Bundesregierung aus. Die Verkürzung der gesetzlichen Ruhezeiten steht derzeit genauso zur Disposition wie weitere Aufweichungen des Sonn- und Feiertagsverbots. Was genau geändert werden soll, erfahren die Beschäftigten Ende des Jahres im sogenannten Weißbuch, wo dann alles bereits eingetütet ist.

Belegschaftsspaltung 4.0

Ein Blick in die Betriebe zeigt die gesellschaftlichen Gefahren solch einer von oben aufgesetzten Arbeitszeitdebatte. Diverse Betriebsvereinbarungen rund um das mobile Arbeiten gibt es zum Beispiel in Unternehmen der Automobilindustrie. Einige Beschäftigte können dort auch mal von Zuhause aus arbeiten und können sich, das Einverständnis ihres Chefs vorausgesetzt, ihre Arbeitszeit flexibler einteilen. Dies gilt aber eben nicht für alle Beschäftigte! Denn nur diejenigen, deren Arbeitsplatz keine ständige Anwesenheit erfordert, kommen in den Genuss dieser vermeintlichen Selbstbestimmung, wie etwa Büroangestellte oder Entwicklerteams. Die Beschäftigten, die beispielsweise dafür sorgen, dass diese Wissensarbeiter/innen in der Kantine nicht vor leeren Tellern sitzen, haben das Nachsehen. Denn fürs sie gelten solche Vereinbarungen über flexible Arbeitszeiten bisher nicht. Wenn Politik also über flexible Arbeitszeiten für abhängig Beschäftigte redet, meint sie damit immer nur einen Teil der Belegschaft. Und daran wird sich zumindest vorläufig nichts ändern.

Solche Belegschaftsspaltungen kennen wir schon zu genüge, denn sie sind Grundlage der neoliberalen und profitorientierten Politik der letzten 20 Jahre; Leiharbeit, Minijobs und Niedriglohn. Dieses Auseinanderfallen der Belegschaften, die Unsicherheit in den Betrieben und Beschäftigte zweiter Klasse sind Zündstoffe für die ähnlich verlaufende gesellschaftliche Entwicklung. Vor dem Hintergrund unserer stetig wachsenden Bedürfnisse stellt sich die Frage, wo zukünftig die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verläuft? Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass, wenn wir über Amazon noch fix ein Geschenk bestellen, am anderen Ende des Bestellvorgangs immer ein Mensch steht, der das bearbeitet und in den LKW lädt – und zwar „just in time“; also auch abends, nachts oder am Wochenende. Zeiten, wo flexible Freizeitwünsche dieser Beschäftigten keinen Platz haben. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Onlinebestellungen am Wochenende und den Bestrebungen von Amazon, das Verbot der Sonntagsarbeit aufzuheben. Wir müssen aufpassen, dass wir in der Arbeitszeitdebatte nicht nur aus unserer individuellen Perspektive diskutieren. Durch eine fehlende gemeinsame Debatte kriegen wir nicht mit, welche Auswirkungen unsere Positionen auf andere Beschäftigte haben. Zum Vorteil der Arbeitgeber! Anstatt sich also unter den Mantel des Schweigens zu verstecken, können Gewerkschaften aus den Betrieben heraus eine offensive Diskussion mit allen Menschen in Gang setzen, egal, ob erwerbslos, Schichtarbeiter, oder Bauingenieurin!

Gewerkschaftsarbeit 4.0

Meine grundsätzliche Frage ist: Wenn der digitale Wandel mit Produktionssteigerungen einhergeht, warum werden diese jetzt nicht mal in der Gesellschaft gerechter verteilt als bisher? Unternehmen und ihre Politiker haben an dieser Diskussion kein Interesse, sie denken gar nicht daran, die Profitsteigerungen mit den Beschäftigten und erst recht nicht mit der Gesellschaft zu teilen. Wenn wir eine Umverteilungsdebatte haben wollen, müssen wir sie selber aufs Tableau bringen! Und wir können bei Arbeitszeit an die vergangenen Debatten der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums anknüpfen. Es geht nicht nur ums Geld, was gerechter verteilt werden muss, sondern auch um unsere Zeit. Die Frage, wann und wie viel wir arbeiten und wer darüber entscheidet, muss wieder von uns aus diskutiert und entschieden werden.

Ein erstes Signal in die richtige Richtung muss die Reduzierung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit sein – für alle Beschäftigten. Davon ausgehend können wir den digitalen Umbruch nicht nur nach vorn diskutieren, sondern vor allem in unserem Sinne. Wie kann uns der digitale Wandel dabei helfen, weniger für dasselbe Geld zu arbeiten und mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft herstellen? Wie kann er uns bei der Auflösung von Zwei-Klassen-Belegschaften helfen und den Graben zwischen denen die Arbeit haben und denen, die nicht, verkleinern? Das lässt sich nur
gemeinsam beantworten und wir müssen es offensiv tun. Lassen wir nicht zu, dass die Arbeitszeitdebatte ohne uns und ohne unsere Positionen geführt wird. Nutzen wir die Foren, die uns beispielsweise im Rahmen von Streikkonferenzen gegeben werden, um diese Diskussion in Gewerkschaften und in der Gesellschaft gemeinsam selbstbewusst zu führen.

von Jutta Krellmann, gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

Erschienen in „junge Welt“, 21. September 2016