Interview: Nur ein kleiner Schritt von der Tarifeinheit zum Streikverbot

20.05.2015

Die Republik zittert vor dem nächsten Streik der Lokführer, steht vor verschlossenen Kitatüren, leeren Briefkästen und Bankautomaten. Die Bundesregierung will das vermeintliche »Streikland Deutschland« am Freitag mit dem Gesetz zur Tarifeinheit nachhaltig »befrieden« und die Tarifautonomie in »geordnete Bahnen« lenken. Warum das Ganze nicht nur Augenwischerei, sondern ein Angriff auf Grundrechte, Beschäftigte und Arbeitsbedingungen ist, erklären im Interview der Woche Jutta Krellmann und Klaus Ernst.

An diesem Freitag ist das Gesetz der Großen Koalition zur Tarifeinheit in letzter Lesung im Bundestag. Mit diesem Gesetz möchte Bundesarbeitsministerin Nahles die Tarifautonomie stärken und in „geordnete Bahnen“ lenken. Geht es denn so wild zu in der deutschen Tariflandschaft?

Klaus Ernst: Dieses Gesetz ist überflüssig wie ein Kropf. Die Bundesregierung behauptet, dass die Zersplitterung der Tariflandschaft mit ihrem Gesetz eingedämmt würde, weil nur noch der Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft zur Geltung kommt. Die Zersplitterung der Tariflandschaft hat aber andere Ursachen. Würde sich die Bundesregierung wirklich gegen die Erosion des Tarifsystems aktiv werden, müsste sie gegen atypische Beschäftigung, Leiharbeit und den Missbrauch von Werkverträgen vorgehen. Wo bleibt beispielsweise der Aufschrei der Bundesregierung dagegen, dass die Deutsche Post gerade Tarifflucht begeht, indem sie ihre Paketsparte an neu gegründete Billiglohn-Tochterfirmen auslagert? Stattdessen schränkt sie das Streikrecht für kleine Gewerkschaften ein, obwohl das Streikrecht im Grundgesetz gesichert ist. Danach hat jede und jeder das Recht selbst zu entscheiden, in welcher Gewerkschaft man sich organisiert. Gewerkschaften erster und zweiter Klasse widersprechen dem Grundrecht der Tarifautonomie. Es gibt nur einen Gewinner dieses Gesetzes, das sind die Unternehmen, die mit weniger Streiks rechnen können. Eine Stärkung der Tarifautonomie ist das nicht.

Das Gesetz schränkt also das Streikrecht massiv ein und gefährdet die Demokratie. Wieso lässt sich gerade die SPD zu so etwas hinreißen?

Jutta Krellmann: Die SPD hat sich mit der Umsetzung dieses Tarifeinheitsgesetzes in einem faulen Kompromiss die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion zum Mindestlohn erkauft. Das hatte die Union schon in der letzten Wahlperiode geplant, scheiterte aber an ihrem damaligen Koalitionspartner FDP. Nun muss die SPD zur gesetzlich verordneten Tarifeinheit stehen – wider besseres Wissen! Das SPD-geführte Arbeitsministerium prügelt lieber blind dieses unsinnige Regierungsvorhaben durch, obwohl längst klar ist, dass das Gesetz unweigerlich vorm Bundesverfassungsgericht landen und die Beziehungen zu den Gewerkschaften nachhaltig schädigen wird. Was die Arbeitgeberseite mit den Liberalen damals nicht erreichen konnte, setzt jetzt Arbeitsministerin Nahles für sie durch. Das zeigt die absurde Situation auf, in der die SPD allgemein steckt: Mit dem Blick auf das eigene Dauerumfragetief glauben sie, das Richtige zu tun, zeigen aber vielmehr, dass sie im Grunde gar keine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Strategie haben. Dass dieser Zick-Zack-Kurs mal nebenbei das hohe Gut zu streiken einschränkt, ist fatal und auch nicht mehr zu entschuldigen.

Sie sagen, dass die Bundesregierung mit dem Tarifeinheitsgesetz den Tarifkonflikt bei den Lokführern noch angeheizt habe. Wodurch?

Klaus Ernst: Durch die geplante Einschränkung des Streikrechts erschwert sie eine Tarifeinigung zwischen der Gewerkschaft GDL und der Deutschen Bahn. Sie macht dem Bahnvorstand Hoffnung auf eine Regelung, die die Position der Bahn in diesem Konflikt verbessert. Im Übrigen: Die Bundesrepublik Deutschland ist immer noch Alleinaktionärin, also Eignerin der Deutschen Bahn. Die Bundesregierung ist also nicht unbeteiligte Beobachterin in dem Konflikt, sie ist Partei. Sie kann über den Aufsichtsrat Einfluss auf Entscheidungen treffen. Doch statt auf eine Einigung mit der GDL hinzuwirken, akzeptiert sie offensichtlich die Haltung des Bahnvorstandes, der auf Zeit, spielt.

Aus den Reihen des Koalitionspartners Union werdenangesichts der jüngsten Streiks der Lokführer und der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsberufen Stimmen laut, die Streikverbote in Bereichen der öffentlichen Daseinsvorsorge fordern. Die Lokführer, die seit der Privatisierung der Deutschen Bahn nicht mehr verbeamtet sind, sollen nun notfalls wieder verbeamtet werden, um ihnen das Streikrecht zu nehmen. Das klingt absurd…

Jutta Krellmann: …und zeigt im Grunde, in welche Richtung die Bundesregierung die aktuelle Diskussion um Streikrecht und Tarifeinheit eigentlich führen will. Das geplante Gesetz arbeitet sich zwar momentan an den kleinen Gewerkschaften ab, aber interessant ist die Tatsache, dass der Gesetzgeber überhaupt auf diese Weise in die Tarifautonomie eingreifen will. Unter dem Vorwand, Tarifautonomie „regeln“ zu wollen, wird sie stattdessen staatlich eingeschränkt. Daher müssen wir den Anfängen wehren, denn von der gesetzlichen Tarifeinheit hin zu einem Streikverbot in der sogenannten „öffentlichen Daseinsvorsorge“, wie es bisher nur Beamte kennen, ist es nur ein kleiner Schritt. Es wäre einfach beschämend und zynisch, wenn der Staat nach 20 Jahren Privatisierungswut und Lohndumping den Angestellten jetzt auch noch das Recht nehmen würde, für ihre Forderungen zu streiken.

In der medialen Darstellung sieht es oft so aus, als sei Streik das erste Mittel, zu dem unzufriedene Händelstifter unter den Beschäftigten greifen, um überzogene Forderungen durchzudrücken – auf dem Rücken argloser Bürgerinnen und Bürger, die in „Geiselhaft“ genommen werden, und Betrieben, die ums Überleben ringen. Ist das Modell der Sozialpartnerschaft am Ende?

Klaus Ernst: Kein Arbeitnehmer freut sich über einen Streik. Er bedeutet für jeden Einzelnen Einkommenseinbußen, oft schwierige Diskussionen im eigenen Umfeld und nicht zuletzt auch die Angst, wegen eines Streiks Nachteile zu haben. Deshalb ist Streik immer das letzte Mittel, zu dem Gewerkschaften greifen, um sich gegen Arbeitgeber durchsetzen zu können. Zu einem Tarifkonflikt gehören immer wenigstens zwei Parteien. Der Arbeitgeber braucht nicht streiken, wenn er einem Arbeitnehmer die Lohnerhöhung verweigert, ist aber Auslöser für den Tarifkonflikt.

In kaum einem Land wird so wenig gestreikt wie in Deutschland. Selbst mit dem aktuellen Bahn-Streik und dem Streik der Erzieherinnen und Erzieher bleiben die Zahlen weit hinter dem internationalen Vergleich zurück. Mit einem Blick auf die seit über einem Jahrzehnt stagnierenden Reallöhne in Deutschland drängt sich eher die Frage auf, ob nicht sogar mehr Streiks notwendig gewesen wären, um dieser Tendenz entgegen zu wirken. Während die Unternehmen trotz der Krise ihre Profite deutlich steigern konnten, stagnierten die Löhne der Beschäftigten fast ein Jahrzehnt lang. Verantwortlich dafür war die Flexibilisierung der Arbeitswelt – aber auch die langjährige Zurückhaltung der Gewerkschaften.

So, wie es im Moment aussieht, wird das Gesetz im Juli in Kraft treten. Welche Möglichkeiten sehen Sie jetzt noch, das Streikrecht zu sichern?

Jutta Krellmann: Mehrere Gewerkschaften haben bereits angekündigt, vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu ziehen. Damit ist es aber nicht getan. Es muss allen abhängig Beschäftigten bewusst sein, dass sich dieses Gesetz so oder so negativ auf ihr Streikrecht – und damit auch automatisch auf ihre Arbeitsbedingungen – auswirken wird. Egal, ob man bei der Bahn die Fahrgäste betreut, im Krankenhaus die Bettpfannen leert oder bei der Post die Pakete zustellt: In unserer Demokratie haben es die Beschäftigten in der Hand, wer ihre Interessen im Betrieb und im Bundestag vertreten soll.