Interview zum "Stress-Report 2012"
04.02.2013
»Eine Machtfrage zwischen Kapital und Arbeit«
Jutta
Krellmann, Sprecherin für Arbeits- und Mitbestimmungspolitik der
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, über die Ergebnisse des "Stressreport
Deutschland 2012", die Gründe für zunehmenden Stress am Arbeitsplatz,
die Folgen der Agenda-Politik, warum sie wenig Hoffnung hat, dass
Arbeitgeber für Entschleunigung sorgen, und nur durch Arbeitskampf und
gesellschaftlichen Druck Abhilfe geschaffen werden kann
Der Stress am Arbeitsplatz hat in den vergangenen zwei Jahren
zugenommen. Davon sind laut "Stressreport Deutschland 2012" 43 Prozent
der Erwerbstätigen überzeugt. Fast 20 Prozent fühlen sich komplett
überfordert. Was sind die Gründe dafür?
Jutta Krellmann: Der wichtigste Grund für den Stress
ist die Arbeitsverdichtung. Beschäftigte müssen immer mehr in immer
kürzerer Zeit leisten. Viele Unternehmen wälzen ihr unternehmerisches
Risiko mit neuen Managementmethoden immer stärker auf die Beschäftigten
ab und setzen diese mit Zielvereinbarungen und Leistungskennziffern
systematisch unter Druck. Auch die Deregulierung des Arbeitsmarktes und
die Zunahme atypischer Beschäftigung- Leiharbeit, Werkverträge und
befristete Arbeit spielt eine große Rolle. Das sind auch die
Auswirkungen der Agenda 2010.
Welche Folgen hat das?
Die Folgen sind für die Betroffenen dramatisch. Immer mehr Menschen
werden krank durch Stress. Die Zahl der Fehltage wegen psychischen
Problemen ist in zehn Jahren um etwa 60 Prozent gestiegen. Die Zahl der
Frühverrentungen wegen psychisch bedingter Berufsunfähigkeit stieg im
selben Zeitraum bei Männern um 66 Prozent, bei Frauen sogar um 97
Prozent. Millionen von Menschen werden aus der Arbeitswelt regelrecht
ausgespuckt, weil sie den Anforderungen nicht mehr standhalten. Das ist
eine demütigende Erfahrung für die Betroffenen und bedeutet bei
Frühverrentung häufig Armut im Alter.
Sollte das Unternehmen nicht zu denken geben?
Einigen Unternehmen gibt das bereits zu denken. Aber ich setze keine
Hoffnung auf die Einsicht der Unternehmer. Denn die Verdichtung von
Arbeit und Verlängerung von Arbeitszeiten ist nach wie vor eines der
wichtigsten Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens auf
dem Markt zu steigern. Auch wenn einige Unternehmen das Problem
Arbeitsstress wahrnehmen, sind sie oft nicht bereit, einfache Maßnahmen
zu ergreifen, um die Situation zu verbessern. Arbeit zu entschleunigen
kostet häufig einfach viel Geld.
Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt meinte kürzlich, psychische
Erkrankungen seien nicht vorrangig auf Arbeit zurückzuführen, die Ärzte
diagnostizierten psychische Erkrankungen einfach öfter.
Ja, Dieter Hundt hat gesagt, man müsse mehr auf das Freizeitverhalten
von Beschäftigten schauen. Aber die Unterscheidung von "Arbeit" und
"Privatleben" fällt ja gerade immer mehr Beschäftigten immer schwerer,
weil Arbeitszeiten unregelmäßiger werden und Vorgesetzte ihre
Beschäftigten immer häufiger in der Freizeit anrufen. Wenn eine
Kassiererin bei Edeka auf Abruf bereit stehen muss, dann verändert sich
natürlich auch ihre Freizeit, es gibt Spannungen in der Familie und
ähnliches. Die Gestaltung der Freizeit und des Privatlebens ist bei den
meisten Menschen wesentlich von der Gestaltung der Arbeit abhängig,
nicht umgekehrt.
Und zur Frage mit der Diagnose: Ich sehe keinen Grund, warum ich den
Erfahrungsberichten der befragten Kollegen misstrauen sollte. Und deren
Aussage ist eindeutig.
Die Hälfte der Beschäftigten arbeitet mehr als 40 Stunden. Lust, Zwang oder Angst?
Dafür gibt es mehrere Gründe. In vielen Unternehmen wird die
Arbeitszeit nicht mehr streng gemessen, weil die Unternehmen auf neue
Formen der Leistungskontrolle setzen. Da bekommen Beschäftigte bestimmte
Zielvorgaben, die sie erfüllen müssen und "dürfen" selbst auf die Zeit
achten. Am Ende leisten sie regelmäßig unbezahlte Mehrarbeit. Das ist
ein wichtiger Grund für Mehrarbeit. Aber es sind oft auch niedrige
Stundenlöhne, die Menschen freiwillig länger arbeiten lassen, um auf das
nötige Geld zu kommen. Oder eben die Angst um den Arbeitsplatz.
Brauchen wir eine Debatte über die Verteilung der Arbeit und
eine Verkürzung der Arbeitszeit? Oder ist daran unter den gegenwärtigen
Verhältnissen gar nicht denkbar?
Ja, wir brauchen diese Debatte. Es ist widersinnig, dass ein Teil der
Beschäftigten so viel arbeitet und ein anderer Teil Arbeit sucht oder –
und das ist sogar noch häufiger – "unterbeschäftigt" ist, das heißt
gerne länger arbeiten würde. Denkbar ist eine Neuverteilung der Arbeit
natürlich. Ob es durchsetzbar ist, das hängt von vielen Faktoren ab –
von gesetzlichen Initiativen, aber mindestens ebenso stark von
außerparlamentarischen Mobilisierungen der Gewerkschaften. Letzten Endes
ist das eine Machtfrage zwischen Kapital und Arbeit, die am Ende nicht
über Argumente alleine entschieden wird, sondern über Arbeitskampf und
die Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte.
Welche Rolle spielen Leiharbeit, Werkverträge, befristete Arbeitsverhältnisse und Niedriglohn für Stress?
Eine sehr große. Alle einschlägigen Untersuchungen zeigen, dass
Leiharbeit, Befristungen und Werkverträge großen Stress verursachen. Sie
sind verbunden mit häufigerem Wechsel des Arbeitsplatzes, des
Einsatzortes und der Kollegen. Die atypisch Beschäftigten müssen sich
häufiger in ungewohnte Arbeitsaufgaben einarbeiten und ihnen fehlt das
stabile soziale Netz von langjährigen Kollegen im Betrieb. Sie werden
als erste entlassen, wenn das Unternehmen Probleme hat. Das macht
anfälliger für Stress, ebenso die ständige Erfahrung, Beschäftigter
"Zweiter Klasse" zu sein. Niedrige Löhne verursachen auch Stress, weil
sie permanente soziale Unsicherheit bedeuten. Menschen mit geringerem
Einkommen haben auch schlechtere Möglichkeiten sich zu erholen.
Was kann gegen Stress am Arbeitsplatz getan werden und wie kann das wirksam in Unternehmen implantiert werden?
Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, wie sie die IG Metall
vorgeschlagen hat. Damit können Stressbelastungen im einzelnen Betrieb
im Rahmen von Gefährdungsbeurteilungen regelmäßig geprüft werden. Die
Beschäftigten müssen mehr Mitspracherechte bekommen bei der
Ausgestaltung von Arbeitsprozessen, aber auch eine Mitbestimmung in
wirtschaftlichen Fragen. Wenn das Personal fehlt, hilft die beste
Organisation von Arbeitsprozessen nichts.
Arbeitszeitgesetze müssen strikter eingehalten werden. Am Ende reichen
Gesetze auf der Ebene des einzelnen Betriebs alleine nicht aus: Die
Deregulierung des Arbeitsmarktes muss rückgängig gemacht werden.
linksfraktion.de, 4. Februar 2013