Über Stunden reden - aus der Gewerkschaftsbeilage der Jungen Welt

20.09.2017

Über Stunden reden

Wann beginnt, wann endet der Arbeitstag? Diese Frage dürfen Beschäftigte und Gewerkschaften nicht den Unternehmern überlassen. Ein Kommentar

Jutta Krellmann

Den Unternehmern ist es gelungen, die Löhne trotz steigender Produktivität nicht mehr anzuheben. Jetzt versuchen sie, weitere Profitsteigerungen über die Entgrenzung, Verdichtung und Verlängerung der Arbeitszeit zu realisieren. Die Debatte um die Digitalisierung und die damit angeblich einhergehende Notwendigkeit einer »flexibleren« Arbeitsorganisation fungiert dabei als Türöffner für einen Angriff auf das Arbeitszeitgesetz.

In der aktuellen Diskussion wird übersehen, dass es dabei auch um die Ausweitung der Kontrolle und der Verfügungsgewalt über die Beschäftigten sowie deren Lebenszeit geht. Wer jedoch eine solidarische und gerechtere Gesellschaft will, muss für mehr Zeitsouveränität und kürzere Arbeitszeiten für alle abhängig Beschäftigten eintreten.

Die Bundesregierung feiert sich für die Reduzierung der Erwerbslosenzahlen und für den absoluten Höchststand an Beschäftigung mit 44 Millionen Menschen in Deutschland – die deutsche Wirtschaft feiert mit. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Gesamtwert aller in der Bundesrepublik hergestellten Waren und Dienstleistungen, ist in den letzten 20 Jahren um 63 Prozent gestiegen. Die Annahme, dass mehr Beschäftigte auch mehr erarbeiten, greift dabei zu kurz. Es gibt zwar mehr Beschäftigungsverhältnisse, aber nicht mehr Arbeit. Diese wurde nur auf mehr Köpfe verteilt – und das zu jeweils schlechteren Bedingungen als zuvor. Die eigentlich spannende Frage ist: Wie viele Stunden gesellschaftlicher Arbeit werden tatsächlich für die Herstellung des Wohlstandes benötigt?

Der Mikrozensus belegt, dass lohnabhängig Beschäftigte seit 2010 gleichbleibend etwas über 56 Milliarden Stunden pro Jahr tätig sind. Das gesamtgesellschaftliche Arbeitszeitvolumen bleibt also relativ konstant, während der gesellschaftliche Wohlstand wächst und die Ungleichverteilung zunimmt. Schon 2015 bargen die geleisteten Überstunden ein Potential für 900.000 zusätzliche Vollzeitstellen. Theoretisch – denn die Mehrheit der 1,8 Milliarden Überstunden wurde nicht bezahlt. Damit entgingen den Beschäftigten laut Deutschem Gewerkschaftsbund im Jahr mehr als 20 Milliarden Euro Lohn und Gehalt.

Arbeitszeit ist daher bei vollem Lohnausgleich umzuverteilen und gesetzlich zu begrenzen. Nur so kann verhindert werden, dass die einen ohne Ende arbeiten und die anderen zu kurz arbeiten oder keine Stelle haben. Die einen werden krank durch Arbeit und die anderen krank durch keine Arbeit. Ein erstes Signal in die richtige Richtung ist daher die Reduzierung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit für alle Beschäftigten von 48 auf 40 Stunden. Davon ausgehend können wir auch den digitalen Umbruch in unserem Sinne diskutieren.

Es geht dabei immer auch um die Frage der Kontrolle: Die Unternehmer wollen, dass die für eine bestimmte Zeit gekaufte Arbeitskraft optimal in eine tatsächliche, messbare Leistung umgesetzt wird. Die Zunahme der Kontrolle über die Beschäftigten führt jetzt schon zu mehr Belastungen. Da wundert es nicht, dass jeder dritte Arbeiter dauerhaft unter Stress steht und dass sich die Fehltage wegen psychischer Belastungen und Erkrankungen seit 1997 verdreifacht haben.

Nichtsdestotrotz wird die Ausweitung dieser Kontrolle auf die Gesamtheit des Lebens des Beschäftigten strategisch weiter vorangetrieben. So schrieb der Geschäftsführer der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft in einer Pressemeldung vom 19. Juli, dass »die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal zehn Stunden nicht mehr zeitgemäß« ist und auch die verankerte Mindestruhe von elf Stunden im Arbeitszeitgesetz fallen muss. Arbeit soll dann abgerufen werden können, wenn die Unternehmer sie benötigen. Das unternehmerische Risiko der Auslastung wird so auf die Beschäftigten abgewälzt und die Tätigkeiten werden weiter verdichtet. Das darf nicht sein, der Schutz der Gesundheit durch das Arbeitszeitgesetz muss verteidigt und ausgebaut werden.

Da sich jedoch selbst die Sozialdemokratie offen für »Neues« zeigt und vorschlägt, dass, wenn die Tarifpartner sich einigen, man den Rahmen des Arbeitszeitgesetzes öffnen kann, wird dies ein umso härterer Kampf. Nach dem Willen der SPD und CDU/CSU sollen Unternehmer nicht mehr wie bisher von starken und verhandlungsmächtigen Gewerkschaften unter Druck gesetzt werden, um Tarifverträge abzuschließen, die Verbesserungen gegenüber gesetzlichen Mindeststandards garantieren. Statt dessen versucht der Gesetzgeber die Unternehmer in die Tarifbindung zu locken, indem er ihnen über sogenannte tarifdispositive Regelungen die Möglichkeit gibt, in ihrem Betrieb gesetzliche Schutzrechte zu unterlaufen. Es wäre ein Skandal, sollte es zukünftig nicht mehr »besser«, sondern »schlechter« mit Tarifvertrag heißen!

Wenn wir eine Umverteilungsdebatte haben wollen, müssen wir sie selbst aufs Tapet bringen. Dabei können wir an die vergangenen Debatten zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums anknüpfen. Doch diesmal geht es nicht nur ums Geld, das gerechter verteilt werden muss, sondern auch um unsere Zeit. Die Frage, wann und wieviel wir arbeiten und wer darüber entscheidet, muss wieder im Sinne der Beschäftigten diskutiert und entschieden werden. Lassen wir nicht zu, dass diese Debatte ohne uns und gegen unsere Interessen geführt wird!

Jutta Krellmann ist gewerkschaftspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke

https://www.jungewelt.de/beilage/art/318014