Junge Welt: »Hier aufzeigen, was dort passiert«
17.10.2012http://www.jungewelt.de/2012/10-17/055.php
17.10.2012 / Inland / Seite 8
»Hier aufzeigen, was dort passiert« Bewußtsein schaffen vor Ort. Die Linke informiert in Niedersachsen über Krisenfolgen in Griechenland und Deutschland. Gespräch mit Jutta Krellmann Interview: Johannes Schulten Jutta Krellmann ist Sprecherin für Arbeit und Mitbestimmung der Bundestagsfraktion der Linken
Die Linke hat gerade ihre Niedersachsentour unter dem Motto
»Schluß mit dem Spardiktat. Für ein soziales Europa« beendet. In Städten
wie Hannover, Göttingen oder Wolfsburg ist von den Krisenfolgen bisher
relativ wenig spürbar. Hätten Sie nicht besser durch Spanien oder
Griechenland reisen sollen?
Ich wäre auch gern nach Spanien oder Griechenland gereist, da ist
zumindest das Wetter besser als hier. Es ging uns aber darum, hier
aufzugreifen, was dort passiert. Deshalb hatten wir auch Kollegen dabei,
die in Griechenland und Spanien in den Gewerkschaften aktiv sind. Wir
wollten den Bogen spannen. Was hat das, was in den europäischen Ländern
geschieht, mit dem zu tun, was bei uns hier in Deutschland schon in der
Vergangenheit passiert ist?
Und was hat es damit zu tun?
Einschnitte in diesen Ländern wie Mindestlohnkürzungen, die Verlängerung
des Renteneintrittsalters, die Reduzierung der Renten, Eingriffe in
Tarifverträge beziehungsweise deren gänzliche Abschaffung zugunsten
betrieblicher Vereinbarungen - das alles haben wir in Deutschland
spätestens mit der Einführung der Agenda 2010 bereits erlebt. Und die
Politik behauptet immer noch, diese Dinge haben dazu geführt, daß wir so
gut durch die Krise gekommen sind.
Fakt ist aber auch, daß Krisenfolgen wie Massenarbeitslosigkeit
in Deutschland bisher ausgeblieben sind. Wie haben die Besucher auf den
Veranstaltungen auf diese Themen reagiert?
Vor allem waren die Leute auf den Veranstaltungen überrascht von den
dramatischen Zuständen, über die die Kollegen aus dem Ausland berichtet
haben. Das hat die Leute interessiert, die Veranstaltungen waren
ziemlich gut besucht. Die Situation in den südeuropäischen Staaten ist
dramatischer als hier. Aber auch das Ausmaß der Armut und prekären
Beschäftigung in Deutschland ist den meisten gar nicht bekannt. Die
Elemente der sozialen Sicherung waren hier vergleichsweise groß. Doch
deshalb ist es doppelt schlimm, wenn das alles zerschlagen wird und wir
heute überhaupt über Altersarmut und Armut generell reden müssen. Nach
Zahlen des Bundesamtes für Statistik ist hierzulande jeder siebte Mensch
von Armut bedroht. Also kann man beileibe nicht sagen, daß es den
Menschen gut geht. Nicht alle sind so glücklich durch die Krise
gekommen, wie es scheint.
Trotzdem scheinen die Menschen relativ zufrieden zu sein:
Anders als in unseren Nachbarländern tut sich auf den deutschen Straßen
wenig. Auch bei großangelegten Mobilisierungen wie der
»Umfairteilen«-Kampagne bliebt die Beteiligung übersichtlich.
Tatsächlich ist ein Stückchen Zufriedenheit dabei. Gleichzeitig hat sich
seit Jahren die Haltung verfestigt, daß »man ja eh nichts machen kann«.
Die Politik macht ohnehin, was sie will. Nehmen wir die Forderung nach
einem gesetzlichen Mindestlohn. Nach allen Umfragen sind gut 80 Prozent
der Menschen dafür, einen Mindestlohn einzuführen. Trotzdem sind wir
eines der wenigen Länder in Europa, die keinen haben. Gleiches gilt für
die Rente mit 67.
Die SPD zumindest rückt in Teilen von der Rente mit 67 ab. Auch
wird diskutiert, mit dem Thema Mindestlohn in den Wahlkampf zu ziehen.
Der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gehörte mit zu denjenigen, die die
Agenda 2010 ausgearbeitet haben. Und von deren Inhalten hat sich die SPD
nicht verabschiedet. Selbst wenn es einzelne Stimmen in der Partei
gibt, die jetzt sagen, wir wollten auch einen Mindestlohn einführen und
im Grunde an der Rente mit 67 rütteln, ist das nicht die Mehrheit, diese
Leuten entscheiden nicht. Sogar wenn die SPD möglicherweise gemeinsam
mit den Grünen an die Regierung kommt, wird man kaum damit rechnen
können, daß sich da was ändert.
Wie beurteilen Sie den Umgang der Gewerkschaften mit der Krise?
Die IG-Metall hat beispielsweise darauf verzichtet, zu den
»Umfairteilen«-Protesten aufzurufen ...
Die IG Metall ist ein Tanker. Und bis sie mal in Bewegung gerät, dauert
es ein bißchen. Ich weiß, daß viele Verwaltungsstellen die Kampagne
unterstützt haben, etwa die Verwaltungsstelle Alfeld-Hameln-Hildesheim,
aus der ich komme. Wer glaubt, daß die Generalstreiks in südeuropäischen
Ländern von jetzt auf gleich nur auf Zuruf geschahen, der ist einem
Irrtum aufgesessen. Soetwas braucht lange Diskussionsprozesse mit vielen
Menschen, in den Betrieben und auf der Straße. Wir müssen noch viele
Diskussionen führen und ein Bewußtsein für Themen wie Vermögenssteuer
und Vermögensabgabe schaffen.